Und dennoch sehen wir alle uns als rationale Wesen, wir diskutieren und wägen Argumente, betrachten Vor- und Nachteile, legen vor wichtigen Entscheidungen Plus-Minus-Listen an, horchen gar in uns hinein, um den Emotionen Namen und Wert zu geben und sie in der Bilanz der Rechtfertigungen einzuordnen. Haidt nennt das den „Wahn der Rationalisten“. In seinem Buch „The righteous mind“ erklärt er: „Ich nenne es einen Wahn, denn wenn eine Gruppe von Menschen etwas als heilig erklärt, dann verlieren die Mitglieder des Kults die Fähigkeit, klar darüber nachzudenken.“
Moment, was ist denn das für eine zynische Weltsicht, das kann doch alles gar sein, mögen Sie jetzt einwerfen: Wir Menschen haben große Wissenschaftler*innen hervorgebracht, die etwa in der Mathematik oder der modernen Physik Gedankenwegen von einfachen Voraussetzungen in komplett abstrakte Räume folgen und sich darüber sogar mit (wenigen) anderen austauschen können. Brillante Juristinnen zerlegen die Argumente ihrer Prozessgegner mit kalter Präzision, Schriftsteller spüren mit Sprache, dem Medium des bewussten Erlebens, den Beweggründen und Lebensentscheidungen ihrer Figuren nach. Und ist nicht schon die Tatsache, dass wir über unsere Gefühle nachdenken können, Beleg dafür, dass die Ratio überlegen ist und sozusagen den Hut aufhat?
Wenn Ihnen gerade solche oder ähnliche Gegenargumente durch den Kopf gehen, dann könnte es sein, dass Sie damit Haidts These im Wesentlichen bestätigen. Der Gedanke, eben doch nicht ein so vernunftbegabtes Wesen zu sein, wie man von sich glaubte, ist eine arge Kränkung, und da mobilisiert man schnell Erfahrung und Wissen, um Widerspruch einzulegen.
Im nächsten Schritt könnten Sie jetzt einwerfen, dass sich Haidts Darstellung ja überhaupt nicht widerlegen lasse, wenn schon die Suche nach Gegenargumenten als Beleg zweckentfremdet werde. Darauf ließe sich dann folgendes erwidern: Erstens sind einige Ausnahmetalente, die offenbar sehr viel Rationalität zeigen, kein Gegenbeweis, dass wir alle Normalmenschen sehr oft viel weniger rational sind als wir annehmen – auch wenn Studien zeigen, dass sich an Wissenschaft interessierte Menschen eher auch mal für Ergebnisse interessieren, die ihren Ansichten widersprechen. Zweitens analysieren wir unsere